6. April 2025

Glücklich – trotz allem

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Glücklich – trotz allem

«Anfänglich wollte ich nur noch sterben», sagt Peter Roos in seinem Referat. Geschichten, die unter die Haut gehen, tiefe Einblicke in die menschliche Psyche und eine Rollstuhl-Selbsterfahrung, die es in sich hatte – so lief das Vorstandscoaching in Nottwil.

Von Sébastian Lavoyer

Ein bisschen Übermut, ein Sprung – und plötzlich stand die Welt von Peter Roos still. 16 Jahre ist es her, er absolvierte gerade die Polierschule am Campus Sursee, da macht er sich mit einem Freund auf eine dreimonatige USA-Reise. Von Osten nach Westen im VW-Bus – das war der Plan. Nach einem Monat endet die Reise für Peter unerwartet und mit einem Schock. «Schon während wir unseren Camper aufstellten, bemerkte ich den Pool. Kaum waren wir fertig, sprang ich zum Abkühlen rein», erinnert er sich.

Ohne zu prüfen, wie tief das Wasser ist. Der Sprung verändert sein Leben. Der Pool ist nur ein Meter tief. Er schlägt mit dem Kopf auf dem Boden auf, verletzt die Halswirbelsäule. Der fünfte und der sechste Halswirbel sind gebrochen. Diagnose: Tetraplegie – querschnittgelähmt.

Peter erinnert sich: «Ich lag im Pool, konnte mich nicht bewegen. Das Nächste, woran ich mich erinnere, war die Fahrt im Krankenwagen.» Sein Freund sitzt neben ihm im Ambulanzfahrzeug: «Mach kein Scheiss – steh auf!» – aber nichts geht mehr. «Ich kann nicht, ich spüre meine Beine nicht.»

16 Jahre liegt dieser Unfall heute zurück. Peter ist heute 41 Jahre alt und arbeitet im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, wo er an diesem Samstag Anfang April knapp 40 Baukader-Leuten von seinem Schicksal erzählt. Das jährliche Vorstandscoaching hat Vorstandsmitglieder verschiedener Sektionen, aber auch Mitglieder des Zentralvorstandes sowie Mitarbeitende der Geschäftsstelle ans Ufer des Sempachersees gelockt.

«Ich wollte nur noch sterben»
Peter erzählt von seinem Schicksal. Der Sprung wäre um ein Haar zu einem Sprung in den Tod geworden. Er bricht sich nicht nur die Halswirbel, sondern ist so lange unter Wasser, dass das Chlorwasser hat seine Lungen verklebt. Er liegt im Koma. Nach zwei  Wochen ist er soweit stabil, dass ihn die Rega zurück in die Schweiz fliegt. Er wird beatmet, ist bewegungslos, sprachlos. In Nottwil angekommen, folgt der nächste Schock: «Ich wollte nicht so weitermachen. Ich wollte sterben.»

Die Geschichte von Peter geht unter die Haut. «Ich musste alles neu lernen: Zähneputzen, Anziehen, WC, Duschen. Alles.» Doch er kämpft sich zurück. Seit drei Jahren kommt er meistens ohne Spitex-Hilfe aus. Er hat vier Töchter, einen grossen Freundeskreis, ist achtfacher Schweizer Meister im Rollstuhl-Rugby. «Als ehemaliger Bau-Chnusti war das genau das Richtige für mich», sagt er – und der Saal lacht.

Seine wichtigste Botschaft: «Es geht nicht darum, was dir passiert, sondern darum, was du daraus machst.» Dieser Fokus auf die Lösung – und eben nicht auf das Problem – ist es, was resiliente Menschen ausmacht. Das wird im Referat von Lara Niklaus klar. Die Psychologin arbeitet als Spezialistin für Präventionsmanagement und Gesundheitsförderung in Unternehmen bei der Krankenkasse Swica.

Das psychische Immunsystem - Resilienz
Resilienz kann als Widerstandkraft verstanden, als innere Stärke oder psychische Robustheit. «Sie schützt uns nicht vor Krisen», so Lara, «sondern sie ist eine Art psychisches Immunsystem. Sie hilft uns, wieder aufzustehen, wenn uns etwas umhaut.» Je heftiger dieser Schlag, desto mehr Resilienz braucht es, um wieder auf die Beine zu kommen. Peter und seine Geschichte haben diesbezüglich Vorbildcharakter.

Resilienz brauchen aber wir alle – gerade in der heutigen Arbeitswelt. Auch das macht uns Lara klar. Die Zahlen, die sie nennt, sind erschreckend. Fast ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer sind laut jüngsten Umfragen emotional erschöpft, 45 Prozent befinden sich in einem sensiblen Bereich. «Das heisst, schon eine kleine zusätzliche Belastung – ein Kollege, der ausfällt, ein Vorgesetztenwechsel – kann reichen und sie rutschen in eine Überforderung.»

Emotional überfordert sind wir dann, wenn die Belastungen dauerhaft grösser sind als die verfügbaren Ressourcen. «Das ist Stress, dann wird’s gefährlich», so Lara. Genau hier aber können Vorgesetzte – auch auf der Baustelle – Einfluss nehmen und ihre Teams positiv beeinflussen. Zum Beispiel mit echter Wertschätzung. «Gesehen werden – das macht uns gesund», sagt sie. Ein ehrliches Danke, eine Rückmeldung zu einer unsichtbaren Arbeit – es sind kleine Dinge, die den Unterschied machen können.

So fühlt es sich im Rollstuhl an
Nach einem äusserst intensiven und informativen Morgen werden die Baukader-Leute nach dem Mittagessen von zwei Paraplegikerinnen durch das Zentrum geführt. Sie erfahren, was beim Eintritt passiert, mit welchen Herausforderungen, Querschnittsgelähmte konfrontiert werden, was sie wie neu lernen.

Aber es ist nicht nur ein Zuhören, sondern zu guter Letzt auch ein Selbsterfahren. Wer will, darf sich selbst in einen Rollstuhl setzen. Unter der Führung von Nadia Dell’Oro, von allen nur «Giordi» genannt, geht’s zum Rollstuhl-Parcours. Selbst kleinste Stufen werden zum Hindernis, eine zu steile Rampe wird zur Herkules-Aufgabe, ein Tram-Geleis zur heimtückischen Falle. «Pass auf, das könnte gefährlich werden», warnt «Giordi», wenn sich jemand zu viel zutraut.

Nach einer guten Stunde bringen wir die Rollstühle zurück in die Werkstatt. Wir fahren an der Halle vorbei, in der Rollstuhl-Rugby trainiert wird, passieren andere Paraplegiker beim Boggia. Ein Schicksalsschlag hat das Leben dieser Menschen – oft in Sekundenbruchteilen – radikale verändert. Auch das von Giordi, die knapp 20 Jahren mit dem Töff stürzte und dann von einem nachfolgenden überfahren wurde.

Für eine Stunde haben wir ihre Perspektive einnehmen können. Eine neue Erfahrung, ein Augenöffner. Danach können wir uns wieder erheben, stehen zusammen beim Apéro in der Abendsonne und reden. Über das Gelernte, die Erfahrungen, das Leben – und staunen über diese Menschen, ihre Lebensfreude, ihre Kraft.