5. August 2024

Ein Grenzgänger auf der Suche nach verlorener Zeit

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TEXT: Andrea Lenzin, Rechtsanwalt

Jeden Tag fährt er mit seinem Auto morgens eine halbe Stunde, um nach Rancate zu gelangen, und abends mindestens 45 Minuten – wegen des oft sehr starken Verkehrs -, um nach Hause zurückzukehren. Von Oktober 2021 bis Juni 2022 arbeitet Giuseppe mit einem Team von vier Kollegen auf einer Baustelle im Sopraceneri, in Gordemo. Um die Baustelle zu erreichen und abends nach Rancate zurückzukehren, fahren Giuseppe und sein Team etwa 50 Minuten mit dem Firmenwagen. Nach der Werkabnahme und der Räumung der Baustelle wird Giuseppe infolge einer Personalkürzung von Bernasconi Costruzioni SA entlassen. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangt Giuseppe zusätzlich zu seinem Lohn eine Entschädigung von knapp CHF 23'000 für die seiner Meinung nach geschuldete Reisezeit, die er täglich für die Fahrt nach Gordemo und zurück nach Rancate aufwenden musste.

Die Bernasconi Costruzioni SA weigert sich, Giuseppe die geforderten Entschädigungen zu zahlen, mit der Begründung, die Reisezeit sei in die normale Arbeitszeit eingerechnet und daher bereits voll vergütet worden. Giuseppe lässt es damit nicht bewenden und verklagte einen Arbeitgeber.

Zur Untermauerung seiner Ansprüche legt Giuseppe die monatlichen Lohnabrechnungen vor, aus denen eine tägliche Arbeitszeit von 8,5 Stunden für die von ihm für die «Baustelle Gordemo» geleistete Arbeit hervorgeht.

In seinem Urteil hält das Gericht zunächst fest, dass der betreffende Arbeitsvertrag den zwingenden Bestimmungen des Landesmantelvertrags für das Schweizerische Bauhauptgewerbe (LMV) und dem Gesamtarbeitsvertrag für das Bauhauptgewerbe im Kanton Tessin unterlag. Während der tägliche Arbeitsweg zwischen Giuseppes Wohnort in Italien und dem Betrieb des Arbeitgebers in Rancate unbestreitbar ausserhalb der Arbeitszeit liegt und keine Lohnpflicht des Arbeitgebers begründet, wird gemäss Art. 54 Abs. 1 LMV die Zeit für die Hin- und Rückfahrt zwischen der Sammelstelle und der Baustelle nicht zur Arbeitszeit gerechnet, es sei denn, die Parteien haben wirksam eine Abweichung von dieser Regel vereinbart. Übersteigt diese Zeit 30 Minuten pro Tag, so ist die so definierte «Reisezeit» nach dem LMV zusätzlich zum Grundlohn zu vergüten. Im konkreten Fall stellte das Kantonsgericht jedoch fest, dass es sich bei Rancate nicht etwa um eine «Sammelstelle», sondern um den Hauptsitz der Bernasconi Costruzioni SA handelte und dass die Fahrzeit zwischen dem Anstellungsort und der Baustelle grundsätzlich als Arbeitszeit gilt.

Folglich stellte das Gericht fest, dass die Bernasconi Costruzioni SA entgegen der Behauptung von Giuseppe nicht verpflichtet war, zu beweisen, dass tatsächlich eine Abweichung von Artikel 54 Absatz 1 CNM vereinbart worden war, und dass daher auch in Ermangelung eines entsprechenden Beweises davon ausgegangen werden konnte, dass der in den von Giuseppe gegengezeichneten monatlichen Lohnabrechnungen angegebene 8,5-Stunden-Arbeitstag auch die Zeit für die Fahrt von Rancate nach Gordemo und zurück umfasste. Es oblag also Giuseppe, zu beweisen, dass der Arbeitgeber eine Anwesenheit von 8,5 Stunden auf der Baustelle in Gordemo verlangt hatte und diese vom Arbeitnehmer tatsächlich zusätzlich zur Reisezeit von Rancate zur Baustelle morgens und am Abend geleistet wurde. Da ein solcher Nachweis im Beweisverfahren nicht schlüssig erbracht werden konnte, weist das Gericht die Klage von Giuseppe ab und folgt der Auffassung des Arbeitgebers, dass die in den vom Arbeitnehmer gegenzeichneten Lohnabrechnungen angegebenen Stunden bereits die Fahrtzeit enthielten, die daher bereits mit dem Grundlohn abgegolten wurde.

Fazit
Grenzgänger werden bereits dadurch stark benachteiligt, dass sie zu Beginn und am Ende des Arbeitstages mitunter erhebliche Strecken zurücklegen müssen, um zu ihrem Arbeitsplatz bzw. nach Hause zu gelangen – ein Zeitaufwand, der auf rein «private » Faktoren zurückzuführen ist und als solcher nicht vergütet wird. Wird nun auch die Pendelzeit zwischen dem Firmensitz und der Baustelle (die im Fall von Giuseppe fast anderthalb Stunden pro Tag betrug) aus der Arbeitszeit und damit auch aus der entsprechenden Vergütung ausgeschlossen, wird die Arbeitspflicht des Grenzgängers faktisch noch weiter ausgedehnt und die Arbeitsbedingungen dadurch ohne jegliche Gegenleistung erheblich verschlechtert. Um nicht in die unglückliche Lage von Giuseppe zu geraten ist daher wärmstens zu empfehlen, die Vergütungsverpflichtung des Arbeitgebers in Bezug auf die Reisezeiten zwischen Arbeitsort und Baustelle ausdrücklich und schriftlich zu vereinbaren und in den Lohnund Zeitabrechnungen die «Baustellenzeit» und die «Reisezeit» getrennt auszuweisen.