21. September 2025

Der Club 100 geht unter Tag: Besuch der Gotthard-Baustelle

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Beton, Stahl und die heilige Barbara – der Club-100-Event führte rund 40 Teilnehmende auf die Jahrhundertbaustelle in Uri. Von der Kantine gings direkt in den Berg. Ins Herz der Betonelemente-Produktion in den ehemaligen Munitionsdepots.

Sébastian Lavoyer

Acht Jahre Planung, fünf Jahre Vorbereitung, zwei Jahre Bohren: Wer die Baustelle der zweiten Gotthardröhre betritt, taucht ein in ein Generationenprojekt. 19. September, war es so weit: Rund 40 Mitglieder des Club 100 von Baukader Schweiz machten sich auf nach Göschenen. Sie wollten dort hin, wo normalerweise nur Mineure, Ingenieure und Bauarbeiter Zugang haben.

Geschäftsführer Marco Sonego begrüsste die Gruppe in der Kantine Breiti, dem Herzschlagort der Baustelle. Hier essen die 180 Tunnelbauer ihre Mahlzeiten, hier riecht es nach Arbeit. Dann übergab er an Charly Simmen, Bauleiter und Sicherheitschef der Nordseite. Gleich zu Beginn sprach er Klartext: «Wir haben Probleme im Süden, aber der Fahrplan bleibt bestehen.»

Mehrkosten von bis 20 Millionen Franken

Die Realität unter Tage ist zweigeteilt: Im Norden hat sich die Tunnelbohrmaschine (TBM) «Alessandra» bereits fast 1800 Meter tief ins Gestein gefressen. Im Süden aber kam «Paulina» schon nach weniger als 200 Metern ins Stottern. Schuld ist stark zerklüftetes, loses Gestein. Dort wird jetzt konventionell gesprengt – über 500 Meter. Das kostet Zeit und Geld: 15 bis 20 Millionen Franken Mehrkosten, wie das ASTRA mitteilt.

Der Bau der zweiten Röhre ist zwingend. Die erste Strassenröhre, 1980 eröffnet, ist dringend sanierungsbedürftig, wie Charly sagt. Damit sie erneuert werden kann, braucht es den Parallelbau. Seit dem 18. Januar 2025 arbeitet sich die TBM von Norden her Richtung Airolo. Doch bevor sie loslegen konnte, waren fünf Jahre Vorbereitung nötig: Zufahrten, Kavernen, Hilfsstollen.

Gewaltige Last, knapper Raum

Die Herausforderungen sind massiv. Über der Röhre liegen stellenweise 1500 Meter Gestein. Der Druck auf die Tunnelwandungen ist enorm. Gleichzeitig durchquert die Maschine das grösste Süsswasserreservoir Europas. Zwei geologische Störzonen von je rund 300 Metern Länge machen den Vortrieb unmöglich. Deshalb bohrten die Mineure vorgängig sechs Meter breite Infrastrukturtunnel, brachen das Material aus, sicherten die Zone mit Stahl und Beton. Durch diese vorbereiteten Bereiche werden die TBM später hindurchgezogen.

Doch auch oberirdisch sind die Herausforderungen gewaltig. «Wir haben hier kaum Platz», sagt Charly und zeigt uns eine Luftaufnahme von Göschenen. Dorf, Bahnlinie, Strassentunnel, Reuss, Umfahrungsstrasse – ein einziges Nadelöhr. Platz für Installationsflächen? Kaum. Genutzt wird eine alte Panzerverladerampe: 800 Meter lang, nur 20 Meter breit. Zusätzlich wurden ehemalige Munitionsdepots des VBS umgebaut. . «Dort drin werden jetzt die Betonteile für die Auskleidung des Tunnels produziert», erklärt Charly.

Schweisstreibend draussen, Hightech drinnen

Genau in diese Kavernen geht es wenig später in vier Gruppen. Bevor wir jedoch unter Tage gehen, ziehen alle Teilnehmenden einen orangen Arbeitsoverall und einen grünen Helm an. Die Sonne brennt auf unsere Köpfe, Schweiss rinnt unter den Overalls. Durch eine Bahnhofsunterführung, vorbei an gesperrten Geleisen, betreten wir die Baustelle. Hier wird Ausbruchmaterial auf Züge verladen, ins Tessin gebracht, dort in Sand und Kies getrennt – und über denselben Weg zurücktransportiert.

Die Vereinbarung der Kantone ist klar: Uri verwertet den Ausbruch im Norden, das Tessin im Süden. Aus Urner Sand entstehen Tübbinge, mit dem Kies wird der Urnersee renaturiert. Im Tessin wird das Material genutzt, um Gelände zu modellieren und die Autobahn bei Airolo zu überdecken. Begegnungszonen statt Strassenlärm – so lautet das Motto dort.

Endlich geht es in den Berg. In den Kavernen herrscht eine andere Welt. Hier steht die hochautomatisierte Tübbingproduktion. Roboter, Vakuumheber und Bergarbeiter arbeiten Hand in Hand. Dank spezieller Verfahren trocknen die Betonsegmente in nur einem Tag statt in zwei. Alle 20 Minuten verlässt ein neues Element den Berg. Mehr als 40'000 Stück braucht es. Sechs Tübbinge ergeben einen Ring von über 60 Tonnen Gewicht, der später die neue Röhre sichert.

Im Bauch der Baustelle

Nebenan rattert das eigene Betonwerk. Mischfahrzeuge ohne Nummernschilder – im Berg braucht es keine – fahren im Minutentakt hinein und hinaus. Sie werden beladen, fahren ein Stück, kippen ab, kehren zurück. Ein Rhythmus wie in einem Ameisenhaufen.

Die Besucher marschieren tiefer hinein. Die Luft ist feucht, von den Wänden tropft Wasser. An manchen Stellen wachsen Farne und Moos. Hier unten spürt man, dass der Berg lebt. Und plötzlich steht sie da: eine kleine Statue in einer Felsnische. Die Heilige Barbara. Sie wacht über die Männer im Berg, über jene, die bohren, sprengen, betonieren. Beim Bau der ersten Röhre starben 19 Arbeiter. Diesmal, sagt Charly, ist bisher noch niemand ums Leben gekommen. Dank besserer Sicherheitsvorkehrungen – und vielleicht auch dank der Schutzpatronin.

Zurück ans Licht

Nach zwei Stunden tauchen die Teilnehmenden des Club-100-Events von Baukader Schweiz wieder auf. In der Kantine warten Wasser, Bier und ein Glas Weisswein. Man lacht, tauscht Eindrücke. Die Wucht der Maschinen, die Präzision der Ingenieure, die Kühle im Berg – all das hat Eindruck hinterlassen. Der Club 100 war mittendrin, wo Schweizer Baugeschichte geschrieben wird. Und alle wissen: In fünf Jahren wollen sie zurück – dann aber mit dem Auto.

Herzlichen Dank an unsere vier Guides – und an alle rund 40 Teilnehmenden, die trotz Traumwetter mit uns unter Tag gingen!

 

Zahlen und Fakten

  • Länge: 16.9 km
  • Durchmesser Tunnelbohrmaschine: 12,3 m
  • Ausbruchmaterial: 7.4 Mio. Tonnen
  • Bauzeit: ca. 10 Jahre
  • Kosten: 2.14 Milliarden CHF
  • Installationsflächen: 620'000 m²
  • Vortrieb mit TBM: 14.173 km
  • Kosten: 2,2 Mrd. Franken
  • Verkehrsleistung 2019: 6,4 Mio. Fahrzeuge, davon 640'000 Lastwagen